Ab in den Süden   Flagge BRD                                                     ... jedem Raser zur Warnung!

 

Wir werden wieder zum Pizzaessen an den Gardasee fahren. Diese Tour hat bei uns schon richtig Routine – zum dritten Mal ziehen mein Nachbar Frank und ich für ein paar Tage in den hoffentlich sehr sonnigen Süden los und werden uns dabei in den Alpen tüchtig austoben. Traditionell fahren wir am langen Pfingstwochenende. Wie immer werden wir in einem kleinen Hotel oberhalb von Gargnano an der Ostseite des Gardasees übernachten: die Pizza ist hier lecker, das Weizenbier kalt und die Aussicht beim Abendessen von der Terrasse hinab auf den beleuchteten See einfach unbeschreiblich schön. Während unserer ersten Tour hatten wir die Unterkunft durch einen kleinen Zufall entdeckt. Seither steht unser Ziel immer wieder fest. Also los!

So früh wie möglich verlassen wir unsere Arbeitstellen und treffen uns startklar vor der Garage: Frank mit seiner Suzuki Bandit 1200 S und ich mit meiner treuen BMW K75. Wir haben wirklich nur das Allernötigste eingepackt – Fahren, Fahren, Fahren ist angesagt!

Die Strecke vom Nordharz bis Ulm ist noch am Freitag Nachmittag trotz des dichten Verkehrs in knapp fünf Stunden geschafft. Heute läuft alles aber auch verdammt gut. Wir haben unser Tagesziel fast erreicht. Wie immer wollen wir gegen halb sieben in irgendeinem kleinen Dorfgasthof entlang der Strecke übernachten und bei zwei, drei Bieren und einem warmen Abendessen den ersten Tag der Tour gesellig ausklingen lassen. Die schwäbische Alp liegt schon hinter uns, und ich albere auf der Autobahn mit meinem Mitfahrer Frank herum. Ein wenig hin und her schlenkern, mit dem Gasgriff angeben. Mit Handzeichen freuen wir uns schon auf das Feierabendbier.  

Doch plötzlich ist vor mir dieses Stauende! 

Das hektische Bremsen dauert eine ganze Ewigkeit und wird dabei immer mehr zur Zeitlupen-Einstellung. Slow motion ohne Ende. Gelbe Leuchten blinken vor mir deutlich warnend auf. Ich reagiere jedoch viel zu spät um mich dem Stauende sicher anschließen zu können. Ich fahre auf einen goldenen Audi A3 genau in der Mitte des hinteren Stoßfängers auf. Links und rechts wäre neben dem Fahrzeug genug freier Platz gewesen, um gefahrlos auszuweichen. Wäre…  

Rumms!  

Doch gerade als sich mein Vorderreifen mitten in den hinteren Stoßfänger eindrückt, fährt der Audi gerade wieder zügig an. „Stop and go“ nennt man das im Verkehrsfunk. Dieses Anfahren just in diesem Augenblick bewahrt mich sicher davor, in einem großen Bogen über den Wagen hinweg nach vorne zu fliegen. Gibt es tatsächlich Schutzengel?

Die Wucht des Aufpralls reicht aber immer noch aus, um mich jählings aus der  Sitzbank hochfliegen zu lassen. Beim gewaltigen Rücksturz auf die Bank verliere ich das Gleichgewicht und stürze mit der BMW bei knapp 50km/h nach rechts vorne auf die Fahrbahn.

 Auf dem Boden löse ich mich irgendwie von meinem Motorrad. Ich nehme entfernt das hässliche Geräusch von schleifendem Metall und Kunststoff wahr. Mit geschlossenen Augen rutschte ich völlig hilflos auf der Seite liegend über die Betonfahrbahn entlang – die Füße voran. Meine Motorradjacke verrutscht dabei weit nach oben über den Gürtel, und ich spüre ein heißes Brennen an der rechten Hüfte.

Während ich auf der Betonfahrbahn immer noch weiter schliddere, drehe ich mich langsam um 180°, denn mein schwerer Oberkörper gibt jetzt die Richtung an. Unmittelbar neben mir höre ich das ABS eines LKW im Stakkato wie wild arbeiten. Außerdem schaltet der Fahrer in schneller Folge die Gänge herunter. Ein Pressluftventil zischt dabei in regelmäßiger Folge.  

Irgendwann hört das Rutschen auf. Nichts bewegt sich mehr. Ich öffne langsam meine Augen. Benommen und  wackelig in den Knien gelingt es mir, langsam aufzustehen.  

Ich befinde mich auf der mittleren Fahrspur der A7 kurz vor der Abfahrt Illertissen. Meine rote BMW K 75 liegt 5 Meter entfernt hinter mir. Zahllose Autos fahren langsam rechts und links an mir vorbei. Ich werde beobachtet, aber in meinem Kopf ist es entsetzlich leer… 

Am Seitenrand hält Frank und stellt seine Suzuki Bandit ab. Dann ist er sofort bei mir. „Es geht mir gut!“ sage ich ihm mit zittriger Stimme. „Los, lass uns die BMW an den Rand schieben.“ Erst jetzt beim Aufrichten des Motorrades bemerke ich entsetzt, dass die Vordergabel meiner K75 um fast 20cm nach hinten weg geknickt ist. Trotzdem können wir die Fuhre auf den Standstreifen schieben und dort auf dem Seiteständer abstellen. Der Audi parkt inzwischen ebenfalls auf dem Standstreifen vor uns. 

Die weitere Klärung des Unfalls verläuft schockbedingt wie in einem Film. Austausch der Personalien. Anruf bei einem Abschleppunternehmen. Organisation der Übernachtung.  

Fazit: Totalschaden am Motorrad, Gabel verbogen, Lenkkopf vermutlich eingerissen und Rahmen verzogen. Der Motorschutzbügel ist an der unteren Befestigung abgerissen, hat aber dafür gesorgt, dass dem Motor offensichtlich nichts geschehen ist. Auch der Tank ist unbeschädigt. Kraftstoff läuft nicht aus. 

Meine Lederhose ist nicht mehr nutzbar: vom rechten Knie bis hinauf zur Hüfte sind sämtliche Nähte zerrieben. Das Leder aber hat trotz der langen Rutschpartie gehalten. Die ehemals teure Textiljacke ist ebenfalls an der rechten Seite bis zur weißen Klimamembran völlig aufgescheuert – bereit für die Mülltonne! Weil ich die Jacke und die Hose nicht mit einem Verbindungsreißverschluss kombiniert hatte, konnte mich die eigentlich gute Schutzkleidung leider doch nicht richtig vor schlimmen Verletzungen bewahren: die rechte Hüfte ist bis zum Knochen aufgescheuert, die Wunde blutet im Augenblick jedoch nicht ernsthaft. Die Fleischwunde sieht aber nicht gut aus. Meine rechte Schulter ist trotz des Protektors der Jacke hart gestaucht worden. Ich spüre bereits jetzt, dass ich mit dem rechten Arm Probleme bekommen werde. 

Stunden später: während der Nacht im Hotel wache ich ständig vor Schmerzen auf. Kaum bin ich wieder wach, spielt sich in meinem Kopf ständig die gleiche Unfallszene ab, und ich bin fassungslos, dass ich dem Audi nicht ganz einfach rechtzeitig ausgewichen bin. Es wäre so einfach gewesen links oder rechts vorbeizufahren. Es wäre…  

Dabei war ich mir doch so sicher, ein erfahrener Motorradfahrer zu sein! Ich war mir sicher… 

Am nächsten Morgen kommt die nüchterne Erkenntnis, dass ich doch wesentlich schlimmer verletzt bin, als ich es noch am Abend gedacht hatte. Der Verband an der Hüfte, den ich mir abends selbst angelegt hatte, ist inzwischen blutdurchtränkt, und ich muss ihn nochmals wechseln. Den rechten Arm kann ich dabei so gut wie gar nicht mehr einsetzen. Die Schulter ist inzwischen geschwollen. Bei Frühstück wechseln Frank und ich fast kein Wort. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Wie konnte das passieren? Wie konnte mir das passieren? 

Nach dem Essen verabschieden wir uns. Frank fährt auf seiner Bandit gleich wieder nach Hause zurück. Auch er ist traurig über das jähe Ende unserer Tour. Alles fing so gut an. Pizzaessen am Gardasee! 

Die zerstörte BMW steht seit gestern Abend in der Werkstatt einer kleinen Tankstelle ein paar Kilometer von der Autobahn entfernt. Der Besitzer holt mich vom Hotel ab und bringt mich und mein Gepäck noch am Vormittag freundlicherweise persönlich mit dem Auto zum Bahnhof nach Ulm. Wir hatten uns zuvor darauf geeinigt, dass ich das Unfallmotorrad in den nächsten Tagen auf einem Anhänger persönlich abholen würde.  

Beim Einsteigen in den Zug habe ich große Probleme, die beiden völlig zerkratzten Motorradkoffer zu verstauen. Meine Schulter schmerzt höllisch und ich kann den rechten Arm kaum heben. Den Helm habe ich mit der Visieröffnung auf den linken Arm geschoben. Irgendwann habe ich meinen Sitzplatz erreicht. Die schwarzen Seitenkoffer stehen vor mir auf dem Boden. Die neugierigen Blicke der Mitreisenden sprechen Bände… 

Der vielleicht schlimmste Moment kommt aber erst zu Hause. Bislang weis meine Familie noch nichts über den Unfall. Ich will sie erst nach meiner Rückkehr persönlich zu Hause informieren. Als ich meine Frau mit schmerzender Schulter vorsichtig umarme, kommen mir die Tränen. Zum Glück bin ich jetzt wieder daheim. 

Bisher war ich persönlich von meiner „Unbesiegbarkeit“ überzeugt. Bis zu meinem Unfall war mir noch niemals Schlimmes passiert, und die Hinweise „Fahr bitte vorsichtig!“ entlockte mir stets das berühmte „Ja, ja!“… 

Was kommt hinterher?  

Die BMW habe ich am übernächsten Tag irgendwie mit dem Auto und einem Anhänger vom Abschleppdienst wieder nach Norddeutschland zurück geholt. Dabei muss ich eine zusammengerollte Decke zwischen den Sitzen auf die Handbremse legen, um eine Auflage für meinen rechten Arm zu haben. Nur so kann ich das Auto während der langen Fahrt ohne Schmerzen lenken. Auch beim Verladen der BMW muss man mir helfen: obwohl der Motor der BMW sofort wieder anspringt und wir das Motorrad so recht schnell über eine Bohle auf den Anhänger bekommen, kann ich das Motorrad nicht aus eigener Kraft auf dem Anhänger verzurren. 

Ein Bastler kauft mir die rote K75 Tage später für 1500,- € ab. Motor und andere wichtige Teile sind noch absolut in Ordnung, und das scheint für ihn das Wichtigste zu sein. 

Als er die BMW abholt, komme ich mir wie ein Seelenverkäufer vor. So ist das also, wenn man sein Motorrad verkauft, mit dem man unvergessliche Touren durch Irland, Schottland und Norwegen unternommen hat und oft genug in den Alpen unterwegs war. Hier geht ein Teil von mir weg. Ich fühle mich mies und habe einen riesigen Kloß im Hals. Als ich meine treue BMW auf dem davon fahrenden Anhänger zum letzte mal sehe, muss ich wegschauen. Es geht mir sehr nah!  

Doch irgendwie war mir völlig klar, dass ich diese BMW auf keinen Fall für mich wieder reparieren lassen kann – selbst wenn das möglich gewesen wäre. Die Erinnerung an den Unfall mit ihr ist für mich ganz einfach unerträglich.  

Es kommt leider noch schlimmer: nach zwei Wochen erfahre ich während einer Untersuchung in der Computertomographie, dass die nachhaltigen Schmerzen in meiner Schulter doch nicht nur auf eine Prellung zurückzuführen sind. Beim harten Aufprall auf die Fahrbahn hat offensichtlich der Knochen des Schulterblattes eine der vorderen Sehnen des Kugelgelenkes beinahe durchtrennt. Der Arzt zeigt mir eine mehr als deutliche Röntgenaufnahme. Ich muss mich im Laufe des Jahres auf eine endoskopische Operation mit langer Reha-Behandlung einstellen. 

Hätte ich doch nur besser aufgepasst. Wäre ich doch bloß ausgewichen. Doch die Zeit für Konjunktive ist vorbei. Es ist passiert. 

Ich hatte ein Motorrad…

 

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